Gedenken an die Bombardierung Jenas
Rede des Oberbürgermeisters vom 19.03.2024
Sehr geehrte Damen und Herren,
Hannelore Neuenhahn erinnerte sich im Jahre 2005 in einem Zeitungsbericht an den 19. März 1945 in Jena, heute vor 79 Jahren. Sie lebte als junges Mädchen noch bei ihren Eltern in Camburg. Zwei Tage zuvor hatte sie zum ersten Mal die Südschule Am Tatzend besucht. Als an diesem ihrem ersten Schultag die Bomber über Jena erschienen, befand sie sich mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern bereits im Hochbunker an der Knebelstraße.
Am 19. März unterließ es Hannelore, nach Jena zur Schule zu fahren. Ihr Vater Fritz hatte kurz vor dem erneuten Angriff amerikanischer Bomber mit seiner Frau in Camburg telefoniert. Er arbeitete in der stadtbekannten Druckerei Neuenhahn in der Leutrastraße als Prokurist.
Seine letzte Worte am Telefon behielt seine Tochter zeitlebens im Gedächtnis: „Ich muss jetzt Schluss machen, es kommt ein Verband geflogen.“
12.20 Uhr hatten die Sirenen an diesem Tag schon zum dritten Mal aufgeheult – „Fliegeralarm!“
13.16 Uhr erreichten 197 Flugzeuge der 3. Luftdivision der 8. US Army Air Force den Raum der Stadt Jena.
In sieben Wellen galt ihr Angriff erneut dem Hauptwerk des Unternehmens Carl Zeiss am Rande der Altstadt. Doch nur sechs bis acht Bomben trafen dieses Ziel, sechs das nahe gelegene Jenaer Glaswerk Schott & Genossen. Die Masse der Spreng-, Phosphor- und Brandbomben ging über dem etwa 250 Meter davon entfernten Areal zwischen Fürstengraben und Holzmarkt nieder. Mehrere Hundert Quadratmeter dicht bebauter Wohn- und Geschäftsquartiere lagen innerhalb von 20 Minuten in Schutt und Asche.
Allein diesem Angriff fielen nach unserem heutigen Kenntnisstand 236 Menschen zum Opfer, 100 wurden schwer und 150 weitere leicht verletzt.
Hannelore Neuenhahn verlor an diesem Tag sieben nahe Angehörige. Diese Familientragödie ereignete sich im Keller der Druckerei Neuenhahn. Ihr Vater Fritz kam dort ebenso ums Leben wie Gustav Neuenhahn, der seit 1880 die Firma geleitet hat, dessen Frau Doris, deren Töchter Traude, Brigitte und Gunda sowie Enkel Jens-Peter. Nur wenige der Kellerinsassen hatten sich dank eines Mauerdurchbruchs in ein benachbartes Gebäude retten können. Die Todesopfer konnten erst nach acht Tagen aus dem Keller geborgen werden.
In der folgenden Nacht zerschellten die beiden großen Glocken der Stadtkirche auf dem Boden. Der Dachstuhl des Turms mit dem Glockenwerk hatte nach dem Angriff Feuer gefangen, das Gebälk zerbarst einige Stunden danach.
Die Zerstörung des Turmes und Hallendaches der Kirche von St. Michael – dem Schutzpatron der Kirche und unserer Stadt – symbolisierte auf beklemmende Weise die verheerenden Folgen des Bombenangriffs vom 19. März 1945.
Seit dem letzten Jahr ist die Jenaer Stadtkirche Mitglied der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry als Zeichen der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als auch der bewussten Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden und der Verantwortung hierfür auch in der Gegenwart.
Sehr geehrte Damen und Herren,
eigentlich muss man nichts hinzufügen. Die Überlieferung von Hannelore Neuenhahn bringt umfassend zum Ausdruck, was wir uns anlässlich dieses Gedenktages immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen.
Ihr Bericht sagt sehr viel über die Macht der Zerstörung durch die Kriegsbomben, die Ohnmacht der Zivilisten, die einem solchen Angriff ausgeliefert sind, und das persönliche, individuelle Leid eines betroffenen Menschen, das in diesen Stunden des Angriffs über ihn kam und ihn nie mehr verlassen wird.
Viele Jahre kannten wir Nachrichten über Bombenangriffe und kriegerische Auseinandersetzungen nur aus fernen Ländern. Doch seit mehr als zwei Jahren dauert der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine an. Die alltägliche Berichterstattung hat sich mittlerweile anderen Themen zugewandt, doch ist dort in der Ukraine tagtäglich Krieg. Soldaten kämpfen an der Front, Soldaten sterben jeden Tag.
Die Zivilbevölkerung der Ukraine ist immer wieder den brutalen Attacken der russischen Angreifer ausgesetzt. Raketen- und Drohnenangriffe auf zivile Ziele sind unverändert Alltag.
Berichte darüber dringen nur dann in unsere Nachrichten, wenn wieder besonders viele Opfer zu beklagen sind. Der Krieg in der Ukraine hat mich und ganz viele unter uns wieder sehr wach gerüttelt. Krieg mit all seinem Leid, mit Tod und Zerstörung. Krieg nicht als ein historisches Ereignis aus dem vergangenen Jahrhundert, sondern grausame Gegenwartsrealität mitten in Europa.
Die Eskalation des Konfliktes in der Ukraine macht deutlich, dass Frieden keinesfalls selbstverständlich oder gar ein Selbstläufer ist, sondern dass er gefährdet ist, dass auch unser Frieden beschützt und verteidigt werden muss.
In der Debatte darüber, wie das geschehen kann und muss, gibt es kaum richtig und falsch. Entscheidungen hierzu sind Ergebnisse von Abwägungsprozessen zu Risiken und Notwendigkeiten und Chancen. Unser Gedenken heute ist nicht der richtige Ort für diese Abwägung.
Jedoch wird hier deutlich, dass sich niemand vor dieser Debatte verstecken kann und darf und dass es bewusster Entscheidungen und klarer Handlungsmuster bedarf, um nicht Spielball geopolitischer Machtdemonstrationen und Machtverschiebungen zu werden.
Der Angriffskrieg auf die Ukraine lässt die niedergeschriebenen Erinnerungen an die Bombardierungen Jenas wieder wach werden, weshalb wir heute hier zusammen gekommen sind.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich an dieser Stelle auch den Krieg im Gazastreifen, das Blutbad der Hamas an über tausend Jüdinnen und Juden, die tausenden Opfer auf palästinensischer Seite, die massiven Zerstörungen dort und die humanitäre Katastrophe, die sich dort abzeichnet bzw. schon Realität ist.
Auch wenn dieser schlimme Krieg weiter weg ist, so stehen wir als westliche Welt und insbesondere Deutschland in der Verantwortung, sowohl die Existenz und Sicherheit des Staates Israel als Heimat von Millionen Juden zu garantieren als auch zu einer Lösung des jahrzehntelangen Konfliktes mit den Palästinensern beizutragen.
Die Bilder aus den heutigen Nachrichten lassen uns nachfühlen, was Krieg heißt und was hier in Jena in den Jahren des Zweiten Weltkrieges geschah:
Insgesamt starben mehr als 800 Menschen in Jena durch die insgesamt fünf Bombenangriffe und durch Artilleriebeschuss, darunter auch Zwangsarbeiter. Weit über 1.100 Menschen wurden verletzt. Die Toten und Verletzten machten ca. 3 Prozent der damals in Jena lebenden 79.000 Einwohner und Flüchtlinge aus.
In Folge der Bombardierung waren im Stadtgebiet 17 Prozent der Häuser und Wohnungen so stark beschädigt, dass sie unbewohnbar waren. Insgesamt 2.763 Wohngebäude mit 9.720 Wohnungen wurden beschädigt.
Die Menschen, die ihr Obdach verloren hatten, sogenannte Bombengeschädigte, bekamen eine Liste mit Adressen in anderen Stadtteilen, wo Menschen ein Haus für sich allein oder sehr wenige besaßen und genug Platz hatten.
Krieg ist Teil unserer Geschichte, Krieg ist leider auch Teil unserer Gegenwart. Seien wir dankbar, dass wir heute hier in Frieden leben dürfen, seien wir solidarisch mit den Menschen, die vor Krieg fliehen müssen. Am Ende sind die Leidtragenden immer Menschen, so wie die Jenaer Opfer und ihre Angehörigen 1945 hier in Jena, Erwachsene und viel zu oft unschuldige Kinder.
Lassen Sie unser Denken und Handeln immer von diesem Bewusstsein geprägt sein. Lassen Sie uns gedenken der Menschen, die von 1943 bis 1945 hier in Jena Opfer des Bombenkrieges wurden, des Krieges, der von Deutschland ausgegangen und nun mit seiner ganzen Brutalität zurückgekehrt war.