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Gedenken zum 17. Juni 1953

17.06.2025

Die Rede des Oberbürgermeisters Dr. Thomas Nitzsche

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, dass Sie heute hier zum Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 zusammengekommen sind. Dieses Jahr werden wir im Herbst den 35. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung feiern. Die Friedliche Revolution in der früheren DDR liegt 36 Jahre hinter uns. Viele von uns waren damals noch sehr jung. In wenigen Jahren wird die Zeit, die seit dem Ende der DDR vergangen ist, länger sein, als die Existenz der DDR überhaupt dauerte.

Doch dieser Fakt rechtfertigt nicht, das, was damals in der DDR geschah, zu vergessen. Denn nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus begann für die sowjetisch besetzte Zone keineswegs eine Zeit der Freiheit. Die angestrebte „Diktatur des Proletariats“ war verbunden mit der Unterdrückung Andersdenkender und mit der Einschränkung und Aushebelung von Menschenrechten. Die Erinnerung an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 prägte für die folgenden Jahrzehnte das Bewusstsein dieser Stadt, nicht offiziell seitens der DDR-Regierenden, doch in der Erinnerung der Menschen. Tausende waren an diesem Tag demonstrierend durch die Stadt zum Holzmarkt gezogen. Es gab Unruhen und Verwüstungen in öffentlichen Gebäuden, die erst durch den Aufmarsch sowjetischer Panzer gestoppt werden konnten.

Es kam zu Verhaftungen. Alfred Diener wurde auf darauffolgenden Tag standrechtlich erschossen. Der spätere Ehrenbürger der Stadt Walter Scheler wurde zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt und musste bis zu einem Gnadenerlass 1961 in Haft, davon drei Jahre in Einzelhaft bleiben. Das DDR-Regime hatte sich durchgesetzt. Doch beiden Seiten, den Menschen wie den Regierenden, war klar, was möglich ist, wenn man mutig und entschlossen für die eigenen Rechte eintritt bzw. was droht, wenn die Unterdrückung zu stark wird.

Traditionell treffen wir uns an diesem Tag hier am „Denkmal zum Gedenken an die politisch Verfolgten in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR zwischen 1945 und 1989“. Das Denkmal steht symbolisch für viele Ereignisse und Personen, die den Widerstand und auch die Opfer dieser 44 Jahre zeigen. Viele davon sind auf einzelne Kartons eingeschrieben. So findet sich auch ein Karton mit der Inschrift „1965 Braunsdorf“, eine Bezeichnung, mit der heute vermutlich nur wenige sofort etwas verbinden. Die Inschrift bezieht sich auf die Gründung des Rüstzeitheims Braunsdorf /Dittrichshütte in der Nähe von Saalfeld im Jahr 1957 und auf die Ernennung von Walter Schilling zum Pfarrer in der dortigen Gemeinde und gleichzeitig zum Jugendpfarrer im Kirchenkreis.

Walter Schilling wurde am 28. Februar 1930 in Sonneberg geboren. In der Sowjetischen Besatzungszone erhielt er keine Studienzulassung, weshalb er 1950 nach Münster und Heidelberg ging und dort Theologie studierte. 1955 schloss er das Studium hier in Jena mit dem Examen ab und wurde nach seinem Vikariat zwei Jahre später Kreisjugend- und Gemeindepfarrer in Braunsdorf/Dittrichshütte bei Saalfeld. Ab 1959 baute er in einem Nebengebäude des Gemeindehauses ein kirchliches Jugendheim auf und übernahm dessen Leitung. Zunächst war es noch eine eher klassische Jugendarbeit, aber schon mit neuen Formen. Berichtet wird z.B., dass sich 1968 eine Clique langhaariger Jugendlicher, die am Bahnhof Saalfeld ihren Treffpunkt hatte und oft Ärger mit der Polizei bekam, an Schilling wandte und um Aufnahme in die dortige Junge Gemeinde bat.

Die Jugendlichen erlebten hier Kirche als einen Ort, in dem sie Diskussionen ohne Verbote führen konnten und wo auch musikalisch und künstlerisch mehr erlaubt war als in staatlichen Kulturhäusern. Dass Jugendliche zur Kirche kamen und nach einem geschützten Raum suchten, war in dieser Zeit ein DDR-weites Phänomen. Doch nur ein Teil solcher Bemühungen blieben auf Dauer erfolgreich, denn Christen waren meistens nicht toleranzerfahrener als andere DDR-Bürger. In Braunsdorf allerdings änderte sich allmählich die Jugendarbeit und entwickelte sich zu einem Anziehungspunkt unangepasster Jugendlicher nicht nur aus Thüringen, sondern aus der ganzen DDR. Schillings Konzept setzte auf die Selbstständigkeit der jungen Leute.

Alles wie Einkauf, Kochen, Abwasch und Organisation des Tages lag im Verantwortungsbereich der Jugendlichen. Damit traf er den Lebensnerv vieler nach Autonomie strebender junger Menschen, die mit langen Haaren, Jeans und Parkas durch das Land trampten und damit ihre Eigenständigkeit gegenüber Angepassten demonstrierten. Bald kam es zu Beschwerden aus der Nachbarschaft u.a. wg. Ruhestörung. Das Ministerium für Staatssicherheit registrierte, dass Jugendliche angeblich unter dem Einfluss Schillings den Armeedienst an der Waffe verweigerten. Der Staat begann Druck auf die Kirche auszuüben. Diese gab den Druck an den Pfarrer weiter, nicht zuletzt weil man sich auch in der Kirche nicht überall mit Schillings Konzept der Jugendarbeit anfreunden konnte.  1974 wurde Schilling durch die Kirchenleitung von der Heimleitung entbunden, weil er einen Wehrdienstverweigerer versteckt hatte. Walter Schilling hatte jedoch einen Stein ins Rollen gebracht. Die von ihm und Mitstreitern ins Leben gerufene Offene Arbeit entwickelte sich zu einem DDR-weiten Netzwerk von Menschen, die in unterschiedlichen Projekten der Jugendarbeit aktiv wurden. Im Gegensatz zu traditionellen Formen kirchlicher Jugendarbeit wurde hier auch sehr stark auf die Veränderung der DDR-Gesellschaft gesetzt, die eine freie Entwicklung der Menschen verhinderte. 1978 und 1979 veranstaltete die Offene Arbeit in Rudolstadt unter Mitwirkung Schillings die Werkstätten JUNE, die jeweils von mehreren tausend Jugendlichen aus der ganzen DDR besucht wurden. Die für 1980 geplante Veranstaltung wurde verboten.

JUNE übte wegen seines offenen Konzeptes eine starke Ausstrahlung auf andere Großveranstaltungen in der evangelischen Kirche der DDR aus, wie die Blues-Messen 1979-1986 und selbst noch die Kirchentage von Unten 1987 in Berlin und 1988 in Halle. 1981 setzte die DDR-Regierung die Schließung des Rüstzeitheimes durch, offiziell aus hygienischen Gründen. Jedoch: Das Netzwerk der Offenen Arbeit, die in zahlreichen Städten wie Erfurt, Jena, Halle oder Berlin Standorte gefunden hatte, schloss sich in Berlin 1987 mit anderen widerständigen Basisgruppen zur „Kirche von Unten“ zusammen und war damit eine wesentliche Triebkraft, die letztlich zu Friedlichen Revolution 1989 führte.  Der Theologe und DDR-Oppositionelle Ehrhart Neubert schreibt Schilling eine „Schlüsselfunktion in der gesamten DDR“ zu und hält die jungen Oppositionellen, die unter Schillings Schutz sich versammelten, für die Keimzelle der DDR-Opposition.

Bei dem Geschilderten geht es nicht um Mord, nicht um Haft oder ähnliche extreme Ausschläge des DDR-Regimes, wenn auch das Ministerium für Staatssicherheit immer die Finger mit im Spiel hatte. Bei Walter Schilling geht es um ein von Werten wie Mitmenschlichkeit und Aufrichtigkeit, Vertrauen in die Jugend und Eintreten für Gedanken- und Meinungsfreiheit geprägtes Leben. Er war – sicherlich unabsichtlich – ein Revolutionär der kleinen Schritte, die erst im Verlauf der nächsten Jahrzehnte ihre volle Wirkung entfalteten.

Am 1. August 1975, vor 50 Jahren wurde in Helsinki die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) von 35 Staaten, darunter auch der DDR, unterzeichnet. Auf Initiative des neutral geltenden Finnlands hatten Gespräche auf höchster politischer Ebene stattgefunden, deren Ergebnis eine Schlussakte sein sollte. Die Gefahr des drohenden Atomkrieges zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrages, die sich unversöhnlich gegenüberstanden, sollte so entschärft werden. Für den Ostblock brachte die Schlussakte von Helsinki die Anerkennung der Grenzen der Nachkriegsordnung, das Gebot der Nichteinmischung und einen besseren wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen. Im Gegenzug erkannte die DDR die individuellen Menschenrechte an. Aufgezählt wurden die Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion. Obwohl unmittelbar nach Abschluss der Konferenz es so aussah, als hätten sich die kommunistischen Staaten in wesentlichen Punkten durchgesetzt, so gewannen über die folgenden Jahre die von den Ostblockstaaten anerkannten Menschenrechte ein immer größeres Gewicht. Die unterzeichnenden Staaten hatten sich verpflichtet, die Schlussakte zu veröffentlichen. So bekamen die Menschenrechte in der DDR den Status eines einklagbaren Rechts – wenn auch nicht vor DDR-Gerichten. Die SED weigerte sich hartnäckig, diese Menschenrechte tatsächlich zu gewähren und konnte den Bezug der DDR-Opposition darauf doch nicht mehr aus der Welt schaffen.

Nicht zuletzt deswegen wird auch der KSZE-Schlussakte hier am Denkmal mit einer Inschrift gedacht.
Denn im Herbst 1989 forderten die Demonstranten, nicht wenige Mutige dabei aus der „Kirche von Unten“, die Einhaltung der Menschenrechte, für die die DDR unterschrieben hatte. Der 17. Juni 1953 war im Bewusstsein der Menschen in der DDR geblieben. Trotz der Niederlage des Aufstandes sind Veränderung möglich – so die Erfahrung und Hoffnung von damals. Es braucht Mut, dafür einzutreten. Die verfehlte Lohnpolitik des Staates hatte damals den Zündstoff geliefert, der das Pulverfass DDR explodieren ließ. Daran konnte auch der von den Nachfolgern Stalins im Laufe des Jahres 1953 angeordnete Kurswechsel nichts mehr ändern.  Die Abschwächung verschiedener Restriktionen und Zwangsmaßnahmen wie die Rücknahme der Normerhöhungen am 11. Juni erfolgte zu spät, um die explosive Lage noch entschärfen zu können. Jena war damals ein Zentrum der anschwellenden Massenproteste in Thüringen. Am 17. Juni 1953 zogen Arbeiterkolonnen diszipliniert und einheitlich vom Zeiss-Südwerk und aus dem Jenaer Glaswerk in der Otto-Schott-Straße zum Holzmarkt und skandierten Sprechchöre wie: "Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht Volkes Wille!".

Ihre demokratischen Forderungen nach Rücktritt der SED-Regierung, freien Wahlen und der Freilassung aller politischen Gefangenen erfüllten den öffentlichen Raum. Unter Mittag sollen sich bis zu 25.000 Demonstrierende auf dem Holzmarkt aufgehalten haben. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes wurden mehrere hundert Demonstranten inhaftiert. Von ihnen erhielten 110 Angeklagte hohe Haftstrafen. Die Jenaer Belegschaftsvertreter Walter Scheler und Herbert Bähmisch wurden zu jeweils 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Den Schlosser Alfred Diener urteilte ein Sowjetisches Militärtribunal ohne Verteidigung im Schnellverfahren ab. Er wurde am 18. Juni 1953 in Weimar erschossen. Dennoch: Die landesweiten Sozialproteste von Industriebeschäftigten, Bauern, Gewerbetreibenden und Handwerkern im Sommer 1953 rangen den kommunistischen Machthabern in Moskau wesentliche Zugeständnisse ab, um das SED-Regime stabilisieren zu können. Die Sowjetunion verzichtete zum 1. Januar 1954 auf ihre Reparationszahlungen und senkte die hohen Besatzungskosten. Die Arbeitererhebung in den südlichen und mittleren Bezirken der DDR hatte trotz der Niederschlagung und der zahlreichen Opfer des Terrors im Nachgang des 17. Juni die Grenzen und Illegitimität der Herrschaftsverhältnisse aufgezeigt. 
Es handelte sich um die erste spontane Massenerhebung gegen die Ausbeutungs- und Unterdrückungsapparate in Ostmitteleuropa, die in einigen Großbetrieben – wie dem Jenaer Glaswerk – basisdemokratische Züge annahm.

Der 17. Juni leitete im internationalen Maßstab eine Welle des Aufbegehrens von Arbeitern und Angestellten ein, die sich über Polen und Ungarn 1956, Prag 1968, die Streikbewegung an der polnischen Ostseeküste im Dez. 1970, die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność zehn Jahre später in Gdansk bis hin zum 9. Oktober 1989 auf dem Leipziger Ring erstreckte. Das Aufbegehren der Menschen am 17. Juni 1953 brauchte Mut und Entschlossenheit, ohne die auch die Friedliche Revolution 1989 nicht möglich gewesen wäre.  Dass Menschen den Mut fanden, sich in Oppositionskreisen zu vernetzen und für Menschenrechte offen einzutreten, ist u.a. engagierten Personen wie Walter Schilling und sein Umfeld zu verdanken. Hierfür steht hier am Denkmal die Kiste mit der Inschrift „1965 Braunsdorf“. Es ist und bleibt wichtig, dass wir der konkreten Ereignisse hier vor Ort gedenken, der einzelnen Schicksale der Menschen, die bedingt und eingerahmt sind von Ereignissen größerer Ebene wie der KSZE-Schlussakte. Der 17. Juni bietet uns die Gelegenheit uns bewusst zu bleiben, dass die demokratischen Freiheiten und rechtsstaatlichen Garantien, die wir heute genießen, nicht selbstverständlich sind.

Dass unverändert Menschen zu diesem Denkmal kommen ganz unabhängig von Gedenktagen – seien es Teilnehmende von thematischen Stadtführungen, Studiengruppen oder Angehörige oder Freunde von Opfern, die hier Blumen niederlegen oder ein ewiges Licht anzünden – zeigt, dass die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit der Zeit der DDR-Diktatur nicht abgeschlossen sind. „All denen, deren Menschenwürde verletzt wurde, den Verfolgten, die gegen kommunistische Diktatur aufrecht für Demokratie und Menschenrechte einstanden.“ – so lautet die Inschrift auf der Metallplatte hier vor dem Denkmal.  Im Gedenken an die Opfer des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 bitte ich Sie nun um eine gemeinsame Schweigeminute.

Ein Mann steht vor einem Denkmal.
Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche erinnert an die Ereignisse am 17. Juni
Eine Rose liegt auf einer Gedenktafel.
Bürgerinnen und Bürger versammelten sich zum Gedenken an die Opfer des Volksaufstands.