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Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus

27.01.2022

Rede des Jenaer Oberbürgermeisters Thomas Nitzsche

Sehr geehrte Damen und Herren,

der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ wird in Deutschland seit 1996 als Gedenktag begangen und dient der Erinnerung an alle Opfer des NS-Regimes: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende sowie Männer und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Zwangsarbeiter – an die Millionen Menschen, die unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Ende 2005 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts“. Seit 2006 wird er weltweit begangen.

Im kommenden Mai jährt sich das Ende des 2. Weltkrieges und das Ende des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland zum 77. Mal. Ein dreiviertel Jahrhundert ist es her, dass der – auf die Opferzahlen und die involvierten Länder und Regionen der Erde geblickt – grausamste Krieg und eine bis dahin und bisweilen auch heute unvorstellbare Vernichtungsmaschinerie gegen Menschen zu Ende ging. Auf dem Weg zu diesem Ende lag die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, des Lagers, dass zum Inbegriff des Holocausts geworden ist.

Das systematische Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes mit dem Ziel der vollständigen Vernichtung des jüdischen Volkes wurde nochmals deutlich, als in den vergangenen Tagen auf den 80. Jahrestag der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 hingewiesen wurde. Die politische Entscheidung zur sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ war längst gefallen; hier ging es nun um die Organisation im Detail und die Koordination der Zusammenarbeit der beteiligten Instanzen. Detailliert ist den Protokollen zu entnehmen, wie viele Juden aus insgesamt 30 Ländern und Gebieten in ganz Europa vernichtet werden sollen, insgesamt 11 Millionen Menschen.

Nach Auschwitz-Birkenau wurden europaweit gefangengenommene Menschen, zu allermeist Juden, per Bahn transportiert. Die Herkunftsländer waren u.a. Deutschland, Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn. Die Zahl der Todesopfer in diesem Lager beläuft sich auf ca. 1,1 Millionen Menschen, ca. ein Fünftel der insgesamt 5,6 Millionen ermordeten Juden.

Unter den in Auschwitz Ermordeten waren auch ca. 160.000 nichtjüdische Opfer, vorwiegend Sinti und Roma, Polen und Homosexuelle. 900.000 Menschen wurden unmittelbar nach der Ankunft in Gaskammern ermordet, weitere 200.000 starben durch Krankheit, Unterernährung, Misshandlung, medizinische Versuche oder Zwangsarbeit.

Zwischen dem 17. und 23. Januar 1945 wurden von der SS noch etwa 60.000 Häftlinge „evakuiert“, d.h. zum Teil erschossen und größtenteils in Todesmärschen nach Westen getrieben. Am 27. Januar 1945 wurden die im Lager verbliebenen Häftlinge durch sowjetische Truppen der 322. Infanteriedivision der I. Ukrainischen Front befreit. Von den noch angetroffenen etwa 7.000 überlebenden Häftlingen verstarben – trotz medizinischer Hilfe – in den folgenden Tagen viele.

Wenn wir heute zusammenkommen, so ist keiner unter uns, der die Diktatur des Nationalsozialismus selbst erfahren hat und gar Opfer dieses Regimes war. 77 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges schließt sich die Möglichkeit, dass uns Überlebende von ihren Erfahrungen unmittelbar berichten können. Doch wird es dabei bleiben, dass überlieferte Einzelschicksale das geschehene Leid uns zugänglich und nachvollziehbar, vielleicht auch begreifbar machen. Die persönliche Betroffenheit kann uns stark machen gegen die Gefahr einer Wiederholung dessen, was damals geschehen ist, und gegen neue, heutige Formen der Unmenschlichkeit.

Ca. 700 Opfer der nationalsozialistischen Diktatur sind in Jena zu beklagen: Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Andersdenkende, Homosexuelle, Zwangsarbeiter und andere. Das Jenaer Gedenk- und Totenbuch auf den Internetseiten der Stadt ist ein modernes, virtuelles Denkmal für die Geschichte aller Opfergruppen, das vor allem der Aufarbeitung dient.

Doch die Menschen in Jena brauchen auch reale Orte für das Innehalten und Gedenken und sie haben sich mehrere dieser Orte geschaffen. Das Mahnmal hier auf dem Heinrichsberg wurde 1948 errichtet und war eines der ersten in Thüringen. In Jena erinnern sechs Tafeln an den Todesmarsch aus dem KZ Buchenwald, eine davon hier gegenüber an der Friedhofsmauer. Im vergangenen Jahr wurde an der Camsdorfer Brücke zudem eine Informations- und Gedenkstele errichtet. Seit 1988 erinnert die Gedenktafel am Westbahnhof an die von dort deportierten Juden, Sinti und Roma.

Seit 2007 werden auch in unserer Stadt Stolpersteine verlegt, mittlerweile weit über 40 an der Zahl, die besonders deutlich machen, dass die Opfer Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und möglicherweise Nachbarn unserer Vorfahren waren. 2014 wurde die Gedenkstele in der Löbstedter Straße zur Erinnerung an dort internierte Juden und das Jenaer KZ Außenlager errichtet und 2018 die Gedenktafel für die nach Polen abgeschobenen jüdischen Familien eingeweiht. An die 60 Jenaer Opfer von Medizinverbrechen in Pirna-Sonnenstein wird seit zwei Jahren in den Rathaus-Arkaden erinnert.

Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus muss immer auch die Frage einschließen, wie es zu den mörderischen Taten kam und wer hierfür die Verantwortung trägt. Zu Opfern gehören immer auch Täter. Zu Jenaer Opfern gehören Jenaer Täter. Die Täter waren nicht schlicht „die SS“, „die Lageraufseher“, „die Nationalsozialisten“, „die Wehrmacht“. Die Täter in Jena waren – wie die Opfer – Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, möglicherweise Nachbarn der Opfer, Nachbarn unserer Vorfahren. Welche Verantwortung tragen unsere Vorfahren selbst?

Die Täter arbeiteten in der Stadtverwaltung, in städtischen und privaten Unternehmen, in der Universität, in Krankenhäusern, in Organisationen und Vereinen. Die Täter in den Amtsstuben, die Angestellten auch der Kommunalverwaltung machten den industrialisierten Mord möglich. So wie auf der Wannseekonferenz an oberster Spitze organisiert wurde, so wurde bis zur untersten Ebene willfährig umgesetzt.

Neben der Erforschung der Opferbiographien muss der Blick auch auf die Täter in Jena und in der Stadtverwaltung gerichtet werden. Wie hat Verwaltung in der NS-Zeit funktioniert? Wer hat wie dazu beigetragen, dass sie funktionierte? Welche Verantwortung lag bei der Stadtverwaltung für „Arisierung“, Medizinverbrechen, Zwangsarbeit und Deportation? Die Aufarbeitung zu diesen Fragen ist auch in Jena nicht abgeschlossen.

77 Jahre nach Auschwitz ist der Antisemitismus am Wiedererstarken und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bis hin zu rechtsterroristischen Gewalttaten sind ein viel zu oft gegenwärtiges Phänomen. Die Attacken, Beleidigungen und Bedrohungen gegen Politiker, der Versuch des Geschichtsrevisionismus und die Radikalisierung v.a. im Internet sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Klimas, das den Nährboden für Gewalt schafft.

Der Umgang mit der unverändert andauernden Corona-Pandemie ist eine gesellschaftliche Herausforderung für alle Menschen wie es vor zwei Jahren niemand ahnte und deren Bewältigung ganz vielen ganz viel abverlangt. Von der gesundheitlichen Gefahr über wirtschaftliche Existenzbedrohung bis hin zu überlasteten Kliniken und vereinsamten Menschen. Niemand, auch kein Politiker wird für sich ausschließen können, dass es auch fehlerhafte Entscheidungen gegeben hat im täglichen Ringen, den eigenen Verantwortungsbereich, von Stadt über Land bis zum Bund, bestmöglich durch diese Zeit zu bringen.

Wenn jedoch sich in diesen Tagen Menschen gelbe Sterne an die Brust heften und Parallelen zu Deutschland vor 90 oder 80 Jahren ziehen, so ist das eine unglaubliche Verhöhnung der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Diese Menschen haben nicht verstanden, was damals in Deutschland und Europa tatsächlich passierte, als der Völkermord systematisch geplant und umgesetzt wurde.

Es braucht unverändert viel Engagement, dass die Ereignisse und Verbrechen des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges nicht vergessen werden. Unverändert braucht es Anstrengung und Bewusstsein, dass wir mit unserem täglichen Handeln für Menschenrechte und Menschenwürde eintreten. Sie sind die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschheit. Lassen Sie uns hier gemeinsam handeln!