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Gedenkveranstaltung anlässlich des Tages der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft

08.05.2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

seien Sie herzlich willkommen geheißen zu unserer Gedenkveranstaltung anlässlich des Tages der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Sicherlich hat mancher unter Ihnen sich gewundert, dass wir das diesjährige Gedenken anlässlich des Tages der Befreiung nicht auf dem Kirchplatz vor der Stadtkirche durchführen, wo – so wird berichtet – US-amerikanische Truppen am 12. bzw. 13. April 1945 von Westen kommend die Johannisstraße gen Osten die Stadt besetzten.

Den heutigen Ort hier in den Rathausarkaden haben wir aus zweierlei Gründen gewählt. Zum einen konnten wir hier an diesem Ort vor fünf Jahren diese Gedenktafel zur Erinnerung an die Jenaer Opfer des „T4“-Mordprogramms gegen kranke und behinderte Menschen eingeweihen. Es ist mir wichtig, dass wir auch diese Opfergruppe in unser Gedenken einbeziehen. Zum anderen macht uns der Ort hier in den Rathausarkaden auch bewusst, das staatliche und kommunale Strukturen und die in ihnen beschäftigten Menschen Träger der nationalsozialistischen Verbrechen waren, auch im Jenaer Rathaus.

In diesem Jahr vor 85 Jahren am 1. September 1939 fand der Überfall auf Polen statt und mit dem deutschen Angriffskrieg begann der Zweite Weltkrieg. Keine sechs Jahre später, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945, kapitulierte das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht bedingungslos. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz schwiegen die Waffen.

In den sechs Jahre hatten geschätzte, unvorstellbare 55 Millionen Menschen ihr Leben gelassen. Städte und Landstriche waren in einem ebenfalls kaum vorstellbaren Ausmaß zerstört. Jeder hat die Bilder von Berlin oder Dresden, Warschau oder Kaliningrad, Coventry oder Manchester, Wolgograd oder Leningrad im Kopf.

Mit großem Abstand hatte die Sowjetunion mit rund 24 Mio. Menschen, knapp 10 Mio. Soldaten und ca. 14 Mio. Zivilbevölkerung, die meisten Opfer zu beklagen. Dies sind kaum vorstellbare Zahlen, mehr Menschen als in den neuen Bundesländern und Berlin zusammen leben.

Die Ukraine als Teil der Sowjetunion musste mit Abstand den größten Blutzoll entrichten: mindestens acht Millionen Kriegsopfer, darunter über fünf Millionen Zivilisten, Frauen und Kinder, die im deutschen Vernichtungskrieg von der SS oder der Wehrmacht ermordet wurden. Diese schrecklichen Zahlen schließen auch 1,6 Mio. Juden ein, die im Holocaust auf dem Gebiet der Ukraine von den Nazis durch Erschießungen umgebracht wurden.

Im heutigen Gedenken können wir nicht ausblenden, dass seit bald 27 Monaten Russland gegen die Ukraine Krieg führt, weil das Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor über 20 Jahren einen eigenständigen Weg eingeschlagen hat. Dennoch gedenken wir heute aller Opfer und Leistungen, insbesondere auch der Sowjetunion, die zur Niederschlagung Nazi-Deutschlands vor 79 Jahren führten.

Immer wieder wird im Gedenken an den 8. Mai 1945 auf die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 im Bundestag anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges Bezug genommen, seitdem der 8. Mai in Westdeutschland als „Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ im Gedenkkanon verankert ist. In der DDR war es bereits vorher ein Feiertag.

Die Herausforderung für ganz Deutschland besteht heute darin, das Gedenken in das Bewusstsein der gesellschaftlichen Breite zu bringen. Denn erst dann wird es als Mahnung und Warnung eine Unterstützung sein, dass sich menschenverachtende Verbrechen, aber auch die Demontage einer demokratischen Staatsform wie in der Zeit des Nationalsozialismus nicht wiederholen oder in anderer Form neu begangen werden.

Am 30. Januar 1933 hatten die Nationalsozialisten mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die Macht in Deutschland übernommen. Der mehr als 10 Jahre dauernde Sturm auf die Weimarer Republik mündete im Erfolg der Nationalsozialisten. Die Demontage der Weimarer Demokratie und der Aufbau der nationalsozialistischen Diktatur dauerten nur erschreckend wenige Wochen. Am 1. Februar 1933 wurde der Deutsche Reichstag aufgelöst, politische und demokratische Rechte wurden durch Notverordnungen des Präsidenten eingeschränkt. Das öffentliche politische Leben war von nationalsozialistischem Terror gekennzeichnet.

Spätestens nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 hatte der Reichstag praktisch jegliche Entscheidungskompetenz verloren. Parlamentarier wurden ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt, gefoltert, viele ermordet.

Die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November und an den folgenden Tagen 1938 waren ein weiterer Schritt in den Abgrund. Sie markierten den Übergang von der Diskriminierung und systematischen Vertreibung der deutschen Juden seit 1933 hin zu einer wenig später beginnenden systematischen Vernichtung, dem Holocaust. 1.400 Synagogen und Betstuben wurden zerstört, tausende Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe geplündert, rund 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, hunderte starben.

Kurz vor Kriegsbeginn am 1. September 1939 gehörten knapp 2.200 Jenaer Bürger der Wehrmacht und dem Reichsarbeitsdienst an. In den Zeitungen erschienen bald die ersten Todesanzeigen für gefallene Soldaten, manche getragen von der Trauer des Verlusts, andere von nationalsozialistischen Floskeln.

Die Zahl der Kriegstoten stieg nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 deutlich an. Wie viele Jenaer als Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS und Polizei oder des berüchtigten Polizeibataillons 311, zu dem der jüngst verstorbene Journalist Frank Döbert viel geforscht hatte, ihr Leben verloren, ist unbekannt. Vermutlich waren es über 2.000 Menschen.

Die Jenaer Zivilbevölkerung nahm in den Kriegsjahren erheblich zu, zunächst durch den Zuzug von Arbeitskräften und später durch ausgebombte Familien und Flüchtlinge, die in der Stadt Zuflucht suchten. Sichtbar wurde der Krieg anhand der mehr als 14.000 Zwangsarbeiter, die in Jena für ca. 320 Arbeitgeber, auch für die Stadtverwaltung arbeiten mussten. Mehr als drei Viertel von ihnen waren in den Stiftungsbetrieben Carl Zeiss und Schott beschäftigt. Ca. 50 Lager wurden im Stadtgebiet errichtet, weitere in den umliegenden Ortschaften kamen hinzu.

Misshandlungen und schlechte Versorgung waren an der Tagesordnung. Besonders zum Ende des Krieges hin nahmen Gewalt und Terror zu. Mehrere Zwangsarbeiter wurden in den letzten Jenaer Kriegstagen gezielt ermordet. In den Kriegsjahren wurden 342 Todesfälle registriert, doch dürfte die tatsächliche Opferzahl deutlich höher liegen.

Mehr als 100 Jenaer Bürgerinnen und Bürger wurden Opfer der Shoa. Die planmäßige Deportation der in Jena verbliebenen Juden in Ghettos und Vernichtungslager in den besetzten osteuropäischen Gebieten begann 1942. Viele setzten ihrem Leben selbst ein Ende, um diesem Schicksal zu entgehen. Viele der Deportierten von mussten die Reise in den Tod vom Jenaer Westbahnhof antreten.

Als Industriestandort vor allem für militär-optische Geräte für die Wehrmacht wurde Jena ein Angriffsziel der Alliierten. Während des Bombenkriegs 1943 bis 1945 wurde die Jenaer Innenstadt mehrmals schwer getroffen, v.a. zwischen Februar und April 1945. Insgesamt starben hierbei fast 800 Menschen, darunter mehr als 100 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.

Als letztes militärisches Aufgebot des NS-Regimes ermordeten Mitglieder des Jenaer Volkssturms mindestens zwei Dutzend KZ-Häftlinge des Todesmarsches zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner. Mehr als 4.000 Häftlinge wurden noch am 11. April 1945 durch Jena getrieben, kurz vor den nachrückenden amerikanischen Truppen. Um 15.07 Uhr wurde mit der Camsdorfer Brücke von der SS der letzte intakte Saaleübergang in der Region gesprengt.

Jena ergab sich nicht freiwillig. Fast drei Tage, vom 11. bis 13. April dauerte es, bis Jena einschließlich seiner dörflichen Ortsteile ganz eingenommen war. Immer wieder kam es zu kleineren und größeren Kämpfen und Scharmützeln. Ein Ultimatum der Amerikaner zur Übergabe der Stadt an den amtierenden Oberbürgermeister Hans Dittmer verstrich; die SS setzte Dittmar fest, um Verhandlungen von vornherein zu unterbinden.

Der Krieg in Jena endete am 13. April 1945 knapp vier Wochen vor der Kapitulation mit der vollständigen Besetzung der Stadt durch amerikanischer Truppen. Die Zeit des Nationalsozialismus und der Krieg waren in Jena vorüber.
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte gedanklich nochmal zurückgehen zu der Opfergruppe, für die wir uns heute hier an dieser Tafel versammelt haben.

Der 1. September 1939 ist auch der Tag gewesen, an dem die Legitimierung von Krankentötungen durch Adolf Hitler persönlich erteilt wurde, rückwirkend absichtlich auf diesen Tag datiert. Es ist der Beginn des Aufbaus der Mordorganisation gegen Kranke und Behinderte unter dem Decknamen „T4“. Beides hängt zusammen.

Diesem Mordprogramm sind – in den Jahren 1940-1941 – etwa 70.000 Menschen zum Opfer gefallen: Kranke, Behinderte, Unangepasste.

Sie sind Teil der insgesamt mehr als 200.000 Ermordeten, die durch die „Stille Euthanasie“ in den Kliniken und Landesanstalten ihr Leben verloren. Die Menschen starben durch Aushungerung, Todesspritzen, tödliche Medikation; das Morden ging bis zum Kriegsende weiter. Hinzu kommen mehr als 400.000 Zwangssterilisationen in diesem Zeitraum.

Das nationalsozialistische Regime begründete das Töten durch rasse-ideologische und pseudowissenschaftliche Argumentationen und setzte es mit einem totalitären Machtapparat durch. Diese Zahlen und Begriffe bleiben wahrscheinlich gerade wegen ihrer unfassbaren Dimensionen abstrakt und in der Ferne.

Anders wird es, wenn wir schauen, was konkret hier in unserer Stadt, vor unserer Haustür, in unserer Straße oder unserem Viertel passiert ist. NS-Verbrechen sind auch in Jena verübt worden oder konnten durch die Zuarbeit von Jenaer Fachleuten, Wissenschaftlern, Verwaltungsangehörigen und anderen in die Tat gesetzt werden. Jenaer Bürgerinnen und Bürger und Menschen aus anderen Städten und Ländern wurden hier zu Opfern.

Dem Jenaer „Arbeitskreis Sprechende Vergangenheit“ ist es zu verdanken, dass die Ermordung schutzbefohlener Patienten im lokalen Rahmen unserer Stadt als Teil des Mordprogramms „T4“ erforscht wurde und die Opfer benennbar gemacht wurden.

Auf dieser Gedenktafel werden 60 frühere Mitbürgerinnen und Mitbürgern benannt, die damals in den Tod geschickt wurden, die meisten über die Landesanstalten Blankenhain und Stadtroda, über die „Verlegung in die Zwischenanstalt Zschadraß“ und von dort in die zur Tötungsanstalt umgewidmete Anstalt Pirna-Sonnenstein.

Die Opfer werden dadurch, dass sie bei ihrem Namen genannt werden, sichtbar, bekommen ein Gesicht. Es wird deutlich, dass es sich um Mitbürgerinnen und Mitbürger unserer Stadt handelt – und das berührt.

Das konkrete Hinsehen wirft immer wieder neu die wichtige Frage auf, wie diese Verbrechen geschehen und zugelassen werden konnten, wie und warum sich die Jenaerinnen und Jenaer hierzu damals verhielten und wie wir heute mit den Bedrohungen unserer freiheitlichen Demokratie und der garantierten Menschen- und Bürgerrechte umgehen.
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die nationalsozialistische Durchdringung der Stadt war vielschichtig und tief, angefangen bei der Stadtverwaltung, in der Jenaer Universität, in der Wirtschaft und Industrie wie auch in Vereinen und Verbänden bis in den privaten familiären Bereich hinein. Die Jenaer Bevölkerung hatte ganz überwiegend das nationalsozialistische System mitgetragen, teils aktiv, teils passiv.

Das Jenaer Kriegsende war kein Tag des Jubels. Apathie und Unsicherheit über die Zukunft waren weit verbreitet. Diese Gefühlslage wurde durch den Umstand verstärkt, dass die Einwohner nicht wussten, welcher Besatzungszone Thüringen künftig angehören würde. Das Bewusstsein über das, was in den Jahren des Nationalsozialismus und besonders in den Kriegsjahren geschehen war, musste erst allmählich reifen.

So brauchte es auch Zeit, die Bedeutung und Tragweite des 8. Mais 1945 als Tag der deutschen Kapitulation zu begreifen. Zu tief saßen die Schuld und die Scham, mit verantwortlich zu sein für Völkermord und das Grauen des Krieges, und sei es durch Passivität und Wegschauen. Das Phänomen des Verdrängens, was sehr viele der Opfer wie der Täter nach dem Ende des Krieges erlebten, ergriff weite Teile Gesellschaft. Die DDR ging mit ihrer Gedenkkultur und Gedenkpolitik offensiver in die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, doch auch hier wurden viele Aspekte bewusst oder unbewusst verdrängt.

Die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 stattfand, ist nicht gleichzusetzen mit der Befreiung von nationalsozialistischem Gedankengut. Dieser Kampf bleibt bis heute als dauernde Aufgabe.

Der Kampf gegen menschenverachtende Werte, gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und Diskriminierung und für unsere Demokratie ist ein fortwährender Prozess. Wir, die Demokraten, müssen einstehen für die Grundwerte unserer Gesellschaft, ausgehend von der Würde eines jeden Menschen.

Lassen Sie uns mit diesem Bewusstsein und mit dieser Absicht den Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges lebendig halten.

Ich lade Sie nun ein, gemeinsam mit einer Schweigeminute der Opfer des Nationalsozialismus, besonders der kranken und behinderten Menschen, die Opfer der T4-Verbrechen wurden, sowie derer, die für die Befreiung Deutschlands und Europas gekämpft haben, zu gedenken.

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