
Holocaust-Gedenken in Jena
Die Stadt Jena erinnert am heutigen 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz an die Opfer der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus. Die Rede des Oberbürgermeisters Dr. Thomas Nitzsche, die er am 27.01.2025 am Denkmal am Hinrichsberg gehalten hat, ist hier veröffentlicht:
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit 1996 wird in Deutschland der 27. Januar, der Tag, als im Jahr 1945 die Sowjetarmee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreite, als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ begangen. Der Tag ist der Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes gewidmet: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende sowie Männer und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Zwangsarbeiter.
Es ist ein Gedenktag zur Mahnung und zu Ehren der Millionen Menschen, die unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Ende 2005 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts“. Seit 2006 wird er weltweit begangen.
Das Gedenken ist wichtiger denn je, denn viele Jugendliche wissen nicht mehr, was der Holocaust war, wissen nicht, dass rund sechs Millionen Juden ermordet wurden. Noch schlimmer ist, dass auch viele Verantwortungsträger in Wirtschaft und Politik sich ihrer Verantwortung diesbezüglich nicht bewusst sind.
Im kommenden Mai jährt sich das Ende des 2. Weltkrieges und das Ende des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland zum 80. Mal. Damals ging der – auf die Opferzahlen und die involvierten Länder und Regionen der Erde geblickt – grausamste Krieg aller Zeiten und eine bis dahin und bis heute unvorstellbare Vernichtungsmaschinerie gegen Menschen zu Ende. Auf dem Weg zu diesem Ende lag die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, des Lagers, das zum Inbegriff des Holocausts geworden ist.
80 Jahre nach Ende den Zweiten Weltkrieges gibt es nur noch sehr wenige Zeitzeugen unter uns, die uns von Ihren Erfahrungen berichten können. Selbst die folgende Generation wird älter, die, die die Berichte von ihren Eltern oder Großeltern gehört haben. Die Erinnerungen und der persönliche Bezug zu der Zeit, die die größten Menschheitsverbrechen der Geschichte hervorbrachte, verblassen.
Gleichzeitig erleben wir, wie Geschichtsrevisionismus, Antisemitismus und Verharmlosung der NS-Verbrechen um sich greifen. Seit bald drei Jahren tobt in Europa, in der Ukraine ein Krieg, mit dem die freie Selbstbestimmung eines Landes beendet und Grenzen mit Gewalt verschoben werden sollen.
Umso wichtiger ist es, dass wir nicht vergessen, was damals vor mehr als 80 Jahren in Europa passierte, und dass wir Tage wie heute nutzen, um der Opfer zu gedenken. Das, was damals passierte, passierte Menschen wie Ihnen, wie Dir und mir, Menschen, die von hier kamen. Auch die Täter kamen von hier.
In diesen Tagen um den Jahreswechsel 1939/40, vor 85 Jahren, wurde das Polizei-Ausbildungsbataillon 311 in Jena gebildet und wurde in Kasernen in der Nähe des Jenaer Westbahnhofs stationiert. Freiwillige, zumeist in ihren dreißiger Jahren, aus ganz Deutschland, auch aus Thüringen und Jena begannen ihre Ausbildung als Wachtmeister der Polizei.
Alles sei "vorerst noch völlig harmlos", schrieb Peter W., einer der 500 Rekruten, die ab Frühjahr 1940 in Jena ihre Ausbildung absolvierten, damals an seine Familie. Exerzieren, Schießen, weltanschauliche Erziehung mit Themen wie germanische Rasse, Untermenschentum, Großdeutschland, aber auch gutes Essen bereiteten die Polizisten auf ihre spezielle Aufgabe vor.
Bereits Mitte Oktober wurde das Bataillon geschlossen, rund 175 Mann, per Zug nach Krakau ins Generalgouvernement verlegt. Das Jenaer Bataillon war abgeordnet, den Befehl des Generalgouverneurs Hans Frank umzusetzen, Krakau „judenfrei“ zu machen.
Verstärkt durch polnische Polizisten und Mitarbeiter der SS wurde u.a. der Befehl Nr. 10 umgesetzt.
Walter Danz, Kommandeur des Polizeibataillons, hatte die
„Aktion gegen einheimische Juden im Stadtgebiet von Krakau, die sich nicht ausweisen können“ angeordnet:
„Alle männlichen Juden, die älter als 14 Jahre sind und keine Aufenthaltbewilligung in Händen haben, sind festzunehmen. Sammelplatz für die festgenommenen Juden ist die Synagoge am Trödelmarkt. Von dort erfolgt der Abtransport durch Kräfte des SS-Totenkopfregiments nach dem Lager Lubiczgasse 4.“,
Als im März 1941 die Bildung eines „jüdischen Wohnbezirks“ befohlen wurde und alle bis dahin außerhalb wohnenden Juden ihre Wohnungen verlassen und in das Ghetto ziehen mussten, war das inzwischen über den Distrikt Krakau verteilte Polizeibataillon beteiligt.
Die Aktionen bildeten den Auftakt zum Holocaust.
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 wurden die Polizisten teils gemeinsam mit der kämpfenden Truppe eingesetzt. So wurden die Polizisten Zeugen und zugleich Täter des Vernichtungskrieges.
In Lemberg, Przemyśl, Sambor und weiteren Grenzorten verübten ukrainische Nationalisten mit deutscher Unterstützung Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Juden wurden auf offener Straße gedemütigt und erschlagen. In Lemberg wurden mehrere Tausend Juden unter Teilnahme des Jenaer Polizeibataillons deportiert und in der Nähe der Stadt erschossen. Dies bestätigten Nachkriegsaussagen von Polizisten.
In den folgenden Wochen und Monaten nahm der Vernichtungskrieg unvorstellbare Dimensionen an. Die Blutspur des Jenaer Polizeibataillons zur Sicherung des "rückwärtigen Heeresgebiete" im Bereich des Armeekorps 17 zieht sich durch die Ukraine von Lemberg über Tarnopol, Winniza und Uman bis nach Dnjepropetrowsk mit ungezählten Exekutionen von Zivilisten, Kriegsgefangenen und Partisanen, Deportationen ins Reich und niedergebrannten Dörfern.
Die Einwohnerin Anna Polikarpowna Pawljuk aus dem Dorf Ljutenka bei Poltawa berichtete in ihrer Zeugenaussage 1978 über eine Erschießung in ihrem Heimatort am 28. November 1941. Damals 16 Jahre alt, war sie dabei nur knapp dem Tod entgangen.
„Es war zu diesem Zeitpunkt schon völlig dunkel, doch als wir in den Garten kamen, da sahen wir dort viele Leichen von erschossenen Menschen, und unter ihnen sah ich auch die Leichen der fünfköpfigen Familie, die vor uns von drei deutschen Soldaten in den Garten gebracht worden war. Die Deutschen schossen auf meine Mutter, und zwar schossen alle drei gleichzeitig. Ich ließ mich ebenfalls zu Boden fallen und bedeckte mit meinem Körper meine kleine Schwester Marusja. In diesem Moment schossen die Deutschen auch auf mich, aber die Kugeln gingen vorbei, und ich hörte, wie sie neben mir am Boden aufschlugen.
Einer der Deutschen trat an mich heran und stieß mich weg von meinem Schwesterchen. Dann schoss er zuerst auf meine Schwester, dabei röchelte meine Schwester irgendwie, dann verstummte sie, und dann auf mich.
Ich spürte, dass die Kugel mich am linken Knie verletzt hatte, aber ich ließ mir nichts anmerken und blieb so liegen, wie ich gelegen hatte. Wie sie auf Tatjana schossen, habe ich nicht gesehen, aber ich habe die Schüsse gehört. Die Deutschen schossen mit Maschinenpistolen auf uns. Sie gaben aber kein Dauerfeuer, sondern nur einzelne Schüsse ab.
Danach kamen die deutschen Soldaten noch einmal zu mir, stießen mich mit dem Fuß, aber ich gab keinerlei Lebenszeichen von mir, und kurze Zeit später verließen sie den Garten.
In der Nähe der Großstadt Dnjepropetrowsk, bei Nowomoskowsk, wurde das Polizeibataillon 311 im Winter 1941/42 zusammen mit Wehrmachtseinheiten zur Bekämpfung von Partisaneneinheiten eingesetzt, die sich im "Schwarzen Wald von Samara" verschanzt hatten. Um sie von Unterstützung und Verpflegung abzuschneiden, wurden im harten Winter teils die Einwohner ermordet und Häuser in 30 Dörfern vernichtet.
Von einer größeren Erschießungsaktion Ende 1941/Anfang 1942 berichtete der Polizist Emil H. Das Dorf habe etwa 25 km von Dnjepropetrowsk gelegen:
Im Ergebnis dieser Walddurchkämmung wurden etwa 50 Partisanen gefangen genommen. Diese wurden zum Verhör zum Bataillonsstab gebracht, wo sie durch die Offiziere des Stabes vernommen wurden. Ich möchte sagen, dass sie dabei geschlagen und misshandelt wurden.
Nach der Vernehmung wurden diese von einem Sonderkommando, das aus Angehörigen des Bataillons bestand, außerhalb des Dorfes an einer Grube, die sie selber ausheben mussten, erschossen.
Nachdem diese 50 Partisanen liquidiert waren, wurde das Dorf durch das gesamte Polizeibataillon 311 umstellt. Die Dorfbevölkerung wurde dann von einem Sonderkommando (in Stärke eines Zuges) aus den Häusern getrieben. Im Ergebnis dieser Zusammentreibung waren etwa 200 Zivilpersonen zusammengekommen. Soweit es mir heute noch erinnerlich ist, waren die meisten Frauen verschiedenen Alters sowie ältere Männer.
Diese ca. 200 Sowjetbürger wurden dann in Gruppen von ca. 30 Personen an den dort befindlichen Fluß geführt und erschossen. Die Leichen fielen in den Fluß und trieben davon. Die nicht hineinfielen, wurden durch Angehörige des Sonderkommandos in den Fluß gestoßen.
Im Sommer 1942 wurde das Jenaer Bataillon in das Polizeiregiment 6 kommandiert. Nach verlustreichen Kämpfen im Nordkaukasus existierte der Verband im Januar 1943 nicht mehr.
Die Reste des Jenaer Bataillons gehörten ab Frühjahr 1943 zum Polizeiregiment 26. Es war eine der berüchtigtsten Einheiten, die Teile von Weißrussland bis zum Sommer 1944 in menschenleere Todeszonen verwandelten, indem sie Männer, Frauen und Kinder erschossen oder lebendigen Leibes in Scheunen verbrannten - als "Vergeltung" für den Widerstand der Partisanen.
Im August 1943 kamen die "Jenaer" mit dem Regiment bei Absperrung und Räumung des Ghettos im ostpolnischen Białystok zum Einsatz. Die Eintragungen in Dienstpässen der Polizisten lauteten: "Gefechte mit Banditen und Juden bei der Räumung des Ghettos Bialystok und Stoßtrupp hinter Panzerkampfwagen in das Ghetto".
Die etwa 500 polnischen Widerstandskämpfer konnten im brutalen Häuserkampf - ähnlich wie später in Warschau - der deutschen Übermacht nicht lange standhalten. Die meisten wurden erschossen, nur wenigen gelang die Flucht. 2.000 Juden wurden während der Kämpfe getötet; über 30.000 Juden wurden nach der Selektion entweder in Zwangsarbeitslager nach Lublin oder in die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz deportiert, darunter in letzteres auch 1.260 Kinder und 53 Betreuer.
Bis in die 1980er-Jahre wurde in beiden deutschen Staaten gegen Angehörige des Polizeibataillons 311 wegen Kriegsverbrechen ermittelt, in der Bundesrepublik durch Staatsanwaltschaften, in der DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit. Nicht zuletzt aufgrund gegenseitig abgelehnter Rechtshilfeersuchen führte keines der Verfahren in Ost und West gegen unter Mordverdacht stehende Polizisten zu einer Anklage.
So stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart nach siebenjährigen Ermittlungen das Verfahren gegen Major Walter Danz im März 1980 ein. Im Abschlussbericht vom 4. März 1980 heißt es dazu:
Bei seiner Beschuldigtenvernehmung hat Danz eine Beteiligung an rechtswidrigen Tötungshandlungen zum Nachteil von Juden, Frauen und Kindern entschieden bestritten.
Danz hatte 1976 in einer Vernehmung durch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg erklärt:
Ich habe auch nie gehört, dass in unserem Einsatzbereich Juden erschossen worden sind. Das kann ich mit gutem Gewissen sagen und auch unter Eid wiederholen. Das Polizeibataillon 311 war nie bei einer Judenerschießung eingesetzt.
Das nationalsozialistische Regime verfolgte systematisch das Ziel der vollständigen Vernichtung des jüdischen Volkes. Insgesamt 11 Millionen Menschen sollten laut den Planungen der Wannsee-Konferenz von 1942 sterben. Die Zahl der jüdischen Todesopfer belief sich am Ende auf ca. 5,6 bis 6,3 Millionen ermordeter Menschen. Eine nicht vorstellbare Zahl, ungefähr wie die Einwohnerzahl Thüringens und Sachsen zusammen.
Hinzu kommen hunderttausende nichtjüdische Opfer.
Seit 2007 werden in unserer Stadt Stolpersteine verlegt, mittlerweile sind es 65 an der Zahl. Sie erinnern an jüdische und andere Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, die Opfer des Nationalsozialismus wurden.
Initiativen und Einzelpersonen setzen sich für die Aufarbeitung der Jenaer Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus und die Pflege des städtischen Bewusstseins dafür ein. Nur beispielhaft erwähnen möchte ich den Mahner und Aufklärer Frank Döbert, der das hier vorgetragene Wissen über das Polizeibataillon 311 aus Jena recherchiert hat und der im vergangenen Frühjahr viel zu früh verstarb.
Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus muss immer auch die Frage einschließen, welche Verantwortung wir aus den Erfahrungen unserer Vorfahren und von den Verbrechen des NS-Regimes ableiten.
Neben der Erforschung der Opferbiographien und der unmittelbaren Täter muss der Blick auch auf die städtische Gesellschaft generell und speziell in Jena gerichtet werden. Wie konnte es dazu kommen, dass eine Gesellschaft die beschriebenen Verbrechen mitgetragen hat? Wie hat Verwaltung in der NS-Zeit funktioniert? Wer hat wie dazu beigetragen, dass sie funktionierte? Was leiten wir daraus für unser Engagement und unser politisches Handeln in der Gegenwart ab?
Wir sind hier noch lange nicht fertig. Jahr für Jahr finden wir uns mit neuen Erkenntnissen konfrontiert, wie die Recherche von Frank Döbert, auf die ich mich heute stütze.
Meine Damen und Herren,
80 Jahre nach Auschwitz ist Antisemitismus in Deutschland wieder so verbreitet und so offenkundig, dass Juden sich unsicher fühlen oder gar fürchten, sich offen zu ihrem Glauben zu bekennen und dies im Alltag zu zeigen.
Auch der Krieg im Nahen Osten und eine kritischen Haltung zum Handeln der israelischen Regierung sind keineswegs eine Rechtfertigung für Antisemitismus. Es gibt keine akzeptable Rechtfertigung für Antisemitismus, weder hier noch anderswo.
Es braucht unverändert Engagement, dass die Ereignisse und Verbrechen des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges nicht vergessen werden. Unverändert braucht es Anstrengung und Bewusstsein, dass wir mit unserem täglichen Handeln für Menschenrechte und Menschenwürde eintreten. Sie sind die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschheit. Lassen Sie uns hier gemeinsam handeln!
Ich danke Ihnen für Ihr heutiges Kommen.
