Jena gedenkt der Novemberpogrome 1938
Die Rede des Oberbürgermeisters zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938:
"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
sehr geehrte Damen und Herren,
seien Sie alle herzlich willkommen zu unserer heutigen Feier zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome von 1938, vor mittlerweile 87 Jahren. Es tut gut, dass heute wieder so viele hier zusammengekommen sind und damit ein Zeichen gegen Antisemitismus damals und auch heute setzen.
Ganz besonders begrüße ich zu unserem heutigen Gedenken Herrn Milan Andics, Kantor der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Sie werden uns das „El Male Rachamim“ zum Gedenken an die getöteten Jüdinnen und Juden singen. Herzlichen Dank, dass Sie heute hier sind. Es ist uns wieder eine besondere Ehre!
Ich begrüße auch ganz herzlich die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Jenas, die heute unter uns sind. Seien Sie besonders willkommen! (nicht bekannt, ob jemand oder wie viele da sind)
Ich begrüße sehr herzlich die Mitglieder des Jenaer Arbeitskreises Judentum und ihren Sprecher, Herrn Sebastian Neuß. Vielen Dank, dass der Arbeitskreis wieder gemeinsam mit der Stadt die heutige Veranstaltung vorbereitet hat.
Die heutige Gedenkrede wird Pfarrerin Julia Brabant aus Erfurt halten. Darüber freue ich mich sehr, seien Sie herzlich willkommen!
Unsere Veranstaltung wird musikalisch wieder begleitet von Flötenmusik unter Leitung von Ilga Herzog. Eingerahmt wird unser Gedenken wie in den Vorjahren durch gemeinsames Musizieren und Singen der Aktion „Klang der Stolpersteine“ unter der Leitung von Klaus Wegener.
Der „Klang der Stolpersteine“ hat wie in den letzten Jahren mit einer Vielzahl an Kleinkonzerten, diesmal an 68 Standorten, zum Gedenken an die Jenaer Opfer des Nationalsozialismus im ganzen Stadtgebiet eingeladen hat! Das Gedenken strahlt so mit Musik und Kerzenlicht in die ganze Stadt, in die Wohngebiete, wo jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger lebten, bis sie vertrieben und viele gar getötet wurden.
Liebe Musikerinnen und Musiker, diese Form des Gedenkens ist immer wieder sehr berührend. Vielen Dank für Ihr Engagement!
Sehr geehrte Damen und Herren,
seien Sie alle ganz herzlich willkommen!
Die Novemberpogrome stehen symbolisch für die beginnende physische, systematisch geplante Vernichtung des jüdischen Volkes in der Zeit des Nationalsozialismus.
Es soll und darf nicht vergessen werden, was damals geschah, niemand soll es verharmlosen oder gar leugnen. Keinesfalls darf sich irgendetwas dieser Art jemals wiederholen, weder hier noch anderswo.
Doch seien wir ehrlich: Der Antisemitismus hat nach den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht aufgehört zu existieren. Und nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober vor zwei Jahren und dem folgenden Krieg im Gazastreifen rollt auch über Deutschland eine Welle des Antisemitismus, wie es für die meisten von uns davor nicht vorstellbar war.
Der Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen hat für 2024 einen Anstieg antisemitischer Vorfälle in Thüringen um rund 33 Prozent dokumentiert, angestiegen von 297 auf 392 gemeldete Vorfälle.
Besonders stark ist der Anstieg in linken und akademischen Milieus, besonders stark in Jena. Wenn wir sagen, dass das, was vor 87 Jahren an Unrecht gegenüber Jüdinnen und Juden begangen wurde, sich nicht wiederholen darf, dann müssen wir jetzt handeln. Antisemitismus beginnt weit früher, bevor es physische Angriffe auf Menschen jüdischen Glaubens gibt. Antisemitismus beginnt verbal oder versteckt. Hier müssen wir alle wachsam sein, Zivilcourage zeigen und einschreiten.
Juden sind wieder Ziel von Attacken und sehen sich Angriffen auf ihre Würde ausgesetzt. Wir, die wir heute hier sind, zeigen, dass wir viele sind und dass wir für unsere jüdischen Mitmenschen eintreten.
Ich danke Ihnen, dass Sie hier sind. Seien Sie nochmals herzlich willkommen! Gabi Rönnefarth vom Jenaer Arbeitskreis Judentum wird uns nun ein Gedicht vortragen.
Wichtig ist, dass wir mit Jüdinnen und Juden im Gespräch sind und ihnen zuhören. Denn aus der Ferne kann kaum einer von uns wirklich nachvollziehen, was es heißt, Überlebender oder Nachkomme von Überlebenden des Holocausts zu sein, was es bedeutet, Familienmitglieder in den Gaskammern verloren zu haben, wie es ist, Angst zu haben, öffentlich, im Bus oder im Hörsaal oder auf der Straße zu zeigen, dass man jüdischen Glaubens ist oder eine hebräische Tageszeitung zu lesen.
Prof. Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde, hat mir vor drei-vier Wochen geschrieben, die Stolpersteine seien für viele Jüdinnen und Juden oft der einzige Ort des Gedenkens für ihre Toten. Das macht dieses Gedenkkunstwerk in Deutschland so besonders. Gräber gebe es meist nicht. Die israelische Fahne stehe nach den Novemberpogromen von 1938 und nach dem Holocaust für das Überleben des jüdischen Volkes. Sie stehe auch nach dem 7. Oktober 2023 für das Überleben des jüdischen Volkes.
Die Fahne steht für den Neuanfang mit der Gründung des Staates Israel, der für Jüdinnen und Juden eine sichere Heimstatt sein soll. Sie steht nicht als Rechtfertigung für die gegenwärtige israelischen Politik und ist keine Positionierung zum Verhalten der israelischen Armee im Gazastreifen und im Westjordanland. Sie ist keine Verharmlosung des Leids, das die palästinensische Bevölkerung derzeit erlebt.
So lese ich die Israel-Flaggen, die heute hier zu sehen sind.
Ich weiß um die Irritationen, die die Flaggen bei manchen hier auslösen. Doch denke ich, dass wir das im Sinne der jüdischen Menschen, die ihrer Angehörigen gedenken, aushalten müssen. Die Kritik an der israelischen Politik darf nicht dazu führen, vom millionenfachen Mord am jüdischen Volk abzulenken oder ihn zu relativieren
Jüdische Menschen sind wenige unter uns, auch darauf hat Prof. Schramm hingewiesen. Dass sie so wenige sind, ist nicht ihre Schuld. Deswegen dürfen die deutsche Gesellschaft die Juden und wir unsere jüdischen Nachbarn nicht wieder im Stich lassen.
Der Klang der Stolpersteine hat das Gedenken an ermordete und vertriebene Jüdinnen und Juden in Jena mehr in das städtische Bewusstsein gerückt hat als viele andere Aktionen. Weil es den Klang der Stolpersteine an heute 68 Standorten gibt und dort Hunderte von Menschen im Gedenken an die jüdischen Opfer musizieren, sind wir heute hier so viele. So viele und noch viele mehr müssen wir sein, wenn wir dem erstarkten Antisemitismus in unserer Gesellschaft wirksam entgegentreten wollen.
Ich danke Ihnen, dass Sie hier sind. Seien Sie nochmals herzlich willkommen!"