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Zum Gedenken an Enver Şimşek

11.09.2025

Die Rede von Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche zum 25. Todestag von Enver Şimşek

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor 25 Jahren und zwei Tagen, am 9. September 2000, wurden um die Mittagszeit acht Schüsse auf Enver Şimşek abgegeben. Er übernahm an diesem Tag die Urlaubsvertretung für einen Angestellten an einem Stand seines Blumengroßhandels an einer Straße in Nürnberg. Zwei Tage später, heute vor 25 Jahren, erlag er seinen schweren Verletzungen.

Enver Şimşek war das erste von insgesamt zehn Mordopfern. Die hiesige Gedenktafel und die Platzbenennung stehen für alle zehn ermordeten Menschen, neun mit migrantischem Hintergrund und die Polizistin Michele Kiesewetter.

Wenn wir hier zusammenkommen, gedenken wir aller Opfer des NSU:

  • In 2001 mussten Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü und Habil Kılıҫ sterben,
  • 2004 wurde Mehmet Turgut durch drei Schüsse der NSU-Mörder getötet.,
  • İsmail Yaşar und Theodoros Boulgarides, ermordet in 2005
  • Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, ermordet in 2006.
  • Ein Jahr später, am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen.

Sie alle hatten sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie, die migrantischen Opfer, waren vor Jahren nach Deutschland eingewandert, waren hierher migriert, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Die meisten von ihnen waren selbstständig, mit all den besonderen Herausforderungen, die das mit sich bringt. Viele hatten Familien gegründet, sie hatten Kinder. Mütter und Väter verloren ihre Söhne, Ehefrauen ihre Männer, Kinder ihre Väter.

Vor fünf Jahren haben wir hier diese Gedenktafel eingeweiht und diesen Platz gemeinsam mit der Witwe und den Kindern nach Enver Şimşek benannt, um ihn stellvertretend für alle Opfer zu ehren und die Erinnerung an diese Verbrechen wach zu halten.

Auch für das heutige Gedenken haben wir die Familie eingeladen. Sie ist in diesen Tagen in Nürnberg, wo die Familie Şimşek vor 25 Jahren lebte und Enver Şimşek ermordet wurde. 

Die Kinder haben um Verständnis gebeten, dass sie heute nicht hier sein können, weil der Tod des Vaters sie noch immer sehr belastet und sie in Veranstaltungen zum Gedenken in Nürnberg stark eingebunden sind. 

Umso mehr freue ich mich, dass Tochter Semiya Şimşek uns eine Audiobotschaft hat zukommen lassen, die wir gleich im Anschluss hören werden.

Nach den Worten von Semiya wird Michael Ebenau zu uns sprechen, der sich seit der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes intensiv mit dem NSU und den Bedingungen in Jena in den 1980 und 1990er Jahren befasst hat, mit dem Umfeld, aus dem letztlich die Täter des NSU hervorgegangen waren. 

Das Leid, das den Familien zugefügt wurde, lässt sich nicht wirklich nachvollziehen. Als ob es nicht schrecklich genug wäre, einen nahen Angehörigen zu verlieren, so mussten die Hinterbliebenen sich Verdächtigungen erwehren, die Morde seien durch Verwicklungen in der organisierten Kriminalität, im Rotlichtmilieu oder im Drogenhandel begründet. 

Diese Unterstellungen kamen sehr oft von staatlicher Seite, während Hinweise, dass die Taten einen ausländerfeindlichen, rechtsextremen Hintergrund haben könnten, nicht ernsthaft oder gar nicht verfolgt wurden.

Umso wichtiger ist, dass wir als Gesellschaft diese Fehlleistung aufarbeiten, selbstkritisch bewerten – und um Verzeihung bitten.

Die Aufarbeitung ist wichtig, um auch in diesen schwierigen Zeiten einen klaren Blick auf Entwicklungen und Verhältnisse in unserem Land zu gewinnen bzw. zu behalten. Um aus der Vergangenheit zu lernen und ein Wiederholen der schrecklichen Ereignisse zu verhindern, müssen auch wir in Jena uns weiter mit der Frage auseinandersetzen, wie es dazu kommen konnte, dass der Nationalsozialistische Untergrund hier entstand. 

Das NSU-Gedenkjahr 2021 war ein wichtiger Auftakt. In Jena muss weiter an der wissenschaftlichen Aufarbeitung und der Vermittlung der Historie des NSU und am Gedenken an die Opfer gearbeitet werden. 

Mit diesem Ziel wurde das Rosenthal-Stipendium für Bildende Kunst zu einem Stipendium für politische Bildung umgewidmet und wird ab diesem Herbst zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeit und des Umfelds genutzt, in dem der NSU in Jena entstehen konnte. 

Leonie Dellen wird ab November ein Jahr zur Jugendsozialarbeit im Zeitraum der späten 1980er bis Mitte der 1990er Jahre forschen. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen perspektivisch in ein Vermittlungskonzept übersetzt werden, mit dem an den Schulen Jenas gearbeitet werden kann.

An dieser Stelle sei auch die Ausstellung „Der Weg in den ‚Untergrund‘“ erwähnt, die noch bis Mitte Oktober in der Villa Rosenthal zu sehen ist. 

Der im vergangenen Jahr verstorbene Journalist Frank Döbert hat hier anhand von Zeitungsberichten, Dokumenten und Fotografien Spuren zusammengetragen, die die Radikalisierung des Täter-Trios und die Reaktionen der Stadtgesellschaft und Behörden nachvollziehbar machen.

Seit dem Frühjahr hat sich unter Leitung von Kulturdezernent Johannes Schleußner eine Gruppe von zahlreichen Mitgliedern der Zivilgesellschaft und der Verwaltung gefunden, die sich u.a. mit der Frage befasst, wie wir das Gedenken an die Opfer des NSU in Jena weiterentwickeln wollen.

Denn wir müssen die Geschichte von Enver Şimşek und den anderen Opfern des NSU weitererzählen und jungen wie älteren Menschen dadurch zeigen, wohin extreme und menschenverachtende Ideologien führen.

Dazu zählt auch, dass wir als Stadt sichtbare Zeichen setzen, dass wir ein Klima der Angst, der Einschüchterung und der Gewalt in unserer Stadt nicht dulden. Wir alle müssen gegen diese wie auch gegen alle anderen rechtsextremen und menschenfeindlichen Taten eintreten.

Angesichts des Drucks auf unsere Gesellschaft ist es zentral, dass die demokratische Verfasstheit unseres Landes, dass Menschen- und Bürgerrechte, die Würde jedes einzelnen Menschen gewahrt bleiben. 

Wir wollen, dass Menschen mit migrantischer Herkunft sich in Jena sicher fühlen, dass sie sich wohl fühlen und ein Zuhause finden, auch wenn es nur ein Zuhause auf Zeit sein sollte. 

Ich bin froh, dass das Ringen um unser menschliches Miteinander von der Breite der Jenaer Stadtgesellschaft getragen wird. Das Engagement in der Zivilgesellschaft ist hierbei ganz wesentlich, denn nicht zuletzt trägt sie entscheidend dazu bei, dass der Prozess unserer stadtinternen Auseinandersetzung vorangebracht wird. In diesem Sinne werden wir weiter konstruktiv zusammenarbeiten.

In diesem Sinne bin ich dankbar, dass Sie in diesem Jahr hierhergekommen sind, um der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrundes zu gedenken.