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Gedenkveranstaltung zum 8. Mai

08.05.2021

Anlässlich des Tages der Befreiung vom Nationalsozialismus und des Endes des 2. Weltkrieges in Europa lud der Oberbürgermeister der Stadt Jena, Thomas Nitzsche, zum traditionellen Gedenken mit Kranzniederlegung ein. 

Rede des Jenaer Oberbürgermeisters Thomas Nitzsche zum 8. Mai 

Seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 im Bundestag anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges gilt der 8. Mai allgemein als „Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Die Rede war Ausdruck eines Entwicklungsprozesses in der kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und das Annehmen der eigenen Verantwortung war - hier zunächst für Westdeutschland – ein steiniger und langer Weg.

Bedingungslose Kapitulation

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945, vor 75 Jahren, kapitulierte das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht bedingungslos. Damit ergaben sich alle unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz schwiegen endlich die Waffen.

Vorausgegangen waren sechs Jahre des schlimmsten Krieges, den die Welt bisher erlebt hatte. Geschätzte 55 Mio. Menschen hatten ihr Leben lassen müssen.

Der Krieg ging von Deutschland aus

Doch auch der Krieg hatte seine Vorgeschichte: Am 30. Januar 1933 hatten die Nationalsozialisten mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die Macht in Deutschland übernommen. Der mehr als 10 Jahre dauernder Ansturm auf die Weimarer Republik war an einem Wendepunkt angekommen.

Die Demontage der Weimarer Demokratie und der Aufbau der nationalsozialistischen Diktatur dauerte nur erschreckend wenige Wochen. Am 1. Februar 1933 wurde der Deutsche Reichstag aufgelöst, politische und demokratische Rechte wurden durch Notvervordnungen des Präsidenten zunehmend eingeschränkt. Das öffentliche politische Leben war nun von nationalsozialistischem Terror gekennzeichnet. Spätestens nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 hatte der Reichstag praktisch jegliche Entscheidungskompetenz verloren. Auch Parlamentarier wurden nun ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt, gefoltert, viele starben.

Systematische Vorbereitung des Krieges 

Wenn wir jedes Jahr im November vor dem Westbahnhof an die Novemberpogrome gedenken, so tun wir dies, weil diese Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ein weiterer Schritt in den Abgrund war. Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 hin zu einer systematischen Vertreibung als Vorstufe zur drei Jahre später beginnenden systematischen Vernichtung, dem Holocaust. 1.400 Synagogen und Betstuben wurden zerstört, tausende Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe geplündert, rund 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, Hunderte starben.

Von Beginn an war der Zweite Weltkrieg auch in Jena zu spüren. Mit der geheimen Generalmobilmachung im August 1938 wurden auch hier Lebensmittel wie Fleisch, Zucker, Milch und Speisefett, auch Seife und Bekleidung, bald auch Brot und Kartoffeln rationiert. In der Stadtverwaltung wurde ein Ernährungs- und Wirtschaftsamt gebildet, um die Zwangsmaßnahmen zu koordinieren. Mit dem Einfall der Wehrmacht in Polen am 1.9.1939 wurde das Abhören ausländischer Sender verboten und in den Zeitungen dominierten zunehmend Kriegsnachrichten und Propaganda gegen die Alliierten und Juden.

Kurz vor Kriegsbeginn gehörten 2.196 Jenaer Bürger der Wehrmacht und dem Reichsarbeitsdienst an. In den Zeitungen erschienen bald die ersten Todesanzeigen für gefallene Soldaten, manche getragen von der Trauer des Verlusts, andere von nationalsozialistischen Floskeln. Die Zahl der Kriegstoten stieg nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 deutlich an. Wie viele Jenaer als Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS und Polizei oder des berüchtigten Polizeibataillon 311 während des Krieges umkamen, ist unbekannt. Vermutlich waren es über 2.000 Menschen.

Auch Jena war Teil des Krieges

Die Jenaer Zivilbevölkerung nahm in den Kriegsjahren erheblich zu, zunächst durch den Zuzug von Arbeitskräften und später durch ausgebombte Familien und Flüchtlinge, die in der Stadt Zuflucht suchten. Sichtbar wurde der Krieg anhand der mehr als 14.000 Zwangsarbeiter, die in Jena für ca. 320 Arbeitgeber, auch für die Stadtverwaltung arbeiten mussten. Mehr als drei Viertel von ihnen waren in den Stiftungsbetrieben Carl Zeiss und Schott beschäftigt. Menschen aus 26 Nationen mussten unter teils unmenschlichen Bedingungen arbeiten; die größten Gruppen waren Belgier und Sowjetbürger, Franzosen und Italiener. Ca. 50 Lager wurden im Stadtgebiet errichtet, weitere in den umliegenden Ortschaften kamen hinzu. Misshandlungen und schlechte Versorgung waren an der Tagesordnung. Auch wenn es einzelne Berichte über verbotene Kontakte und Hilfe seitens Jenaer Bürger gibt, so unterstützte doch der Großteil der Bevölkerung die restriktiven Bestimmungen über die Behandlung von Zwangsarbeitern. Besonders zum Ende des Krieges hin nahmen Gewalt und Terror zu. Mehrere Zwangsarbeiter wurden in den letzten Jenaer Kriegstagen gezielt ermordet. In den Kriegsjahren wurden 342 Todesfälle registriert, doch dürfte die tatsächliche Opferzahl deutlich höher liegen.

Jenas Einwohnende waren Opfer der Shoa

Mehr als 100 Jenaer Bürgerinnen und Bürgern wurden Opfer der Shoa. Schon 1940 wurden Berta und Max Meyerstein – soweit bekannt – als erste in Konzentrationslager verschleppt und 1941 und 1942 ermordet. Die planmäßige Deportation der in Jena verbliebenen Juden in Ghettos und Vernichtungslager in den besetzten osteuropäischen Gebieten begann 1942. Viele setzten ihrem Leben selbst ein Ende, um diesem Schicksal zu entgehen: Clara Rosenthal, Therese Zuckerkandel, Marie Straubel, Klara Griefahn. Viele der Deportierten von mussten die Reise in den Tod vom Jenaer Westbahnhof antreten.

Seit den 1930er Jahren war besonders Carl Zeiss Jena als ein Hauptproduzent militäroptischer Geräte für die Auf- und Ausrüstung der Reichswehr bzw. der Wehrmacht bekannt und wurde so ein vorrangiges Angriffsziel der Alliierten. Zwischen 1940 und 1945 gab es in Jena insgesamt 330 Mal Fliegeralarm. Schon am 18. und 19. August 1940 fielen die ersten Bomben auf Jena, die zunächst nur geringe Schäden anrichteten. Doch es kam viel schlimmer. Während des Bombenkriegs 1943 bis 1945 wurde die Jenaer Innenstadt mit den Standorten wichtiger Rüstungszulieferer mehrmals schwer getroffen, v.a. zwischen Februar  und April 1945. Der verheerendste Bombenangriff erfolgte am 19. März 1945, als 197 amerikanische Bomber einen Großangriff gegen Jena flogen und einen Großteil der Jenaer Innenstadt in Schutt und Asche legten. Insgesamt starben fast 800 Menschen starben, darunter mehr als 100 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Der Krieg, der auch von Jena ausgegangen war, war mit voller Wucht zurückgekommen.

Ein Ende mit Schrecken

Als letztes militärisches Aufgebot des NS-Regimes wurden im Frühjahr 1945 hunderte Jenaer für den Volkssturm mobilisiert, darunter Mitarbeiter von Carl Zeiss und der Reichsbahn. Sie nahmen zwar kaum an Kampfhandlungen teil, doch ermordeten sie mindestens zwei Dutzend KZ-Häftlinge, die auf dem Todesmarsch zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner durch die Stadt getrieben wurden.

Der Krieg in Jena endete am 13. April 1945, knapp vier Wochen vor der Kapitulation, durch den Einmarsch amerikanischer Truppen.

Hoffnungslosigkeit und Apathie

Die nationalsozialistische Durchdringung der Stadt war vielschichtig und tief, angefangen bei der Stadtverwaltung, in der Jenaer Universität, in der Wirtschaft und Industrie wie auch in Vereinen und Verbänden bis in den privaten familiären Bereich hinein. Das Jenaer Kriegsende war kein Tag des Jubels. In Weimar wie in Jena blickten die Bürger in den letzten Tagen des Krieges nicht hoffnungsvoll in die Zukunft. So beschrieb es der Kriegskorrespondenten Russel Hill in einem Artikel, der am 4. Mai 1945 in der New York Herald Tribune erschien. Demnach waren unter den Deutschen Apathie und Unsicherheit über die Zukunft weit verbreitet. Diese Gefühlslage werde durch den Umstand verstärkt, dass die Einwohner nicht wüssten, welcher Besatzungszone Thüringen künftig angehören würde.

Das Bewusstsein über das, was in den Jahren des Nationalsozialismus und besonders in den Kriegsjahren geschehen war, musste erst allmählich reifen. So auch das Bewusstsein über die Bedeutung des 8. Mais 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation. Zu tief saßen die Schuld und die Scham, mit verantwortlich zu sein für Völkermord und das Grauen des Krieges, und sei es durch Passivität und Wegschauen. Es brauchte aufrechte und mutige Menschen wie Fritz Bauer und andere, die die Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontierten. Das gilt auch für die DDR, auch wenn hier der „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ seit 1950 ein Feier- und Gedenktag war.

Ende des Nationalsozialismus war kein Ende der Menschenverachtung

Dass die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht gleichgesetzt werden darf mit der Befreiung von menschenverachtenden und gruppenfeindlichen Ansichten und Taten in unserer Gesellschaft, wurde in den letzten 76 Jahren leider wiederholt deutlich. Nicht zuletzt die Taten des NSU wie auch die Anschläge der letzten Jahre verdeutlichen das vorhandene Gewaltpotenzial rassistischer und rechtsextremistischer Kreise.

Ich bin daher froh, dass wir in Jena immer wieder die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit wagen, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den 1930er und 1940er Jahren wie auch mit dem Nationalsozialistischen Untergrund. Als „die Stadt, aus der die Täter kamen“ sind wir in der Verantwortung, nach den Ursachen zu fragen, die Gegenwart zu betrachten und die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft abzuleiten. In diesem Jahr, 10 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU-Trios und 20 Jahr nach dem 1. Anschlag werden hierzu deutschlandweit wahrnehmbare Akzente gesetzt werden.

Kampf gegen rechtes Gedankengut: Eine beständige Aufgabe

Die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 stattfand, ist nicht gleich die Befreiung vom nationalsozialistischen Gedankengut. Dieser Kampf bleibt uns als dauernde Aufgabe. Der Kampf gegen menschenverachtende Werte, gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und Diskriminierung und für unsere Demokratie ist ein fortwährender Prozess. Wir, die Demokraten, müssen einstehen für die Grundwerte unserer Gesellschaft, ausgehend von der Würde eines jeden Menschen.

Lassen Sie uns mit diesem Bewusstsein und mit dieser Absicht den Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und an das Ende des Zweiten Weltkrieges lebendig halten!

Ich lade Sie nun ein, gemeinsam mit einer Schweigeminute der Opfer des Nationalsozialismus sowie derer, die für die Befreiung Deutschlands und Europas gekämpft haben, zu gedenken.